Musikalische Früherziehung ist kein Musikunterricht. Beim ersten Experimentieren mit Klängen, Rhythmen und Instrumenten gibt es kein richtiges oder falsches Spielen. Nicht die Beherrschung eines Instruments ist das Ziel, auch wenn das freie Ausprobieren später zu der ersten Wahl eines Instruments führen kann. Lars Oberhaus, Professor für Musikpädagogik an der Universität Oldenburg, warnt dementsprechend davor, das „zu früh zu viel gewollt wird“.
Musikalische Früherziehung ziele nicht auf die Optimierung von Kindern auf spätere Leistungen ab. Vielmehr gelte es zu beachten, dass „Musiklernen gerade im frühkindlichen Bereich analog zu den Vorgängen des normalen menschlichen Wachstums und Lernwillens verläuft wie Kinder sprechen lernen, im sozialen Kontext handeln, Hören, ausprobieren, spielerisch handeln.“ Der Frankfurter Pädagogikprofessor Hans Günther Bastian verweist dabei auch auf die Erkenntnisse der modernen Hirnforschung: „Es entspricht auch den neuesten hirnphysiologischen Untersuchungen, dass Kinder Musik figural lernen im Tanz, im Bewegen, im Singen, im Spiel.“
Bedeutung der Musikalischen Früherziehung
Musikalische Früherziehung ist ein vielseitiger, umfassender Prozess. Daher darf hier zu Recht von ganzheitlicher Förderung gesprochen werden. Jeder von uns kennt die emotionale Kraft der Musik. Jeder weiß, dass sie in natürlicher Einheit mit Bewegung besteht. Ihre rhythmische Seite bedeutet zudem immer unmittelbar Körpererfahrung. Auch ist die erste Auseinandersetzung mit einem Instrument stets eine motorische Herausforderung. Im Zusammenspiel mit anderen kommt auch der soziale Aspekt hinzu. Und schließlich stellt das beginnende Verständnis für Grundlagen des Musizierens wie Takt, Notenwerte oder Tonarten entsprechende intellektuelle Anforderungen.
Für Lars Oberhaus sind es im wesentlichen drei „Anthropologische Konstanten“, die auch das ganzheitliche Lernen des Kindes über die Musik prägen:
- individueller Ausdruck
- Handlung (singen, spielen, tanzen)
- Ordnung (als sinnlich erlebbare Form)
Ihnen gemeinsam ist die generell emotionale Qualität der Musik: „Musik spricht also zu unseren Affekten und kann Reaktionen auslösen, insbesondere dann, wenn noch kein rationales kulturspezifisches Bewertungssystem zur Verfügung steht (Präferenzen). Dies sind Gründe, warum insbesondere Kinder von Musik ergriffen werden und sich in ihr ausdrücken.“
Musik und Gehirnareale
Die moderne Hirnforschung mit ihren bildbegebenden Verfahren macht deutlich, wie wirksam die aktive Beschäftigung mit Musik besonders für Kinder ist. Musizieren aktiviert nicht einen einzelnen für Musik zuständigen Bereich im Gehirn, sondern versetzt verschiedene Gehirnareale in Interaktion:
„Musik zu machen beansprucht ein kompliziertes Zusammenspiel sehr verschiedener Fähigkeiten: den Hörsinn, den Sehsinn, den Tastsinn, die Feinmotorik.“ So zeigen Untersuchungen, dass bei Musikern die Hirnzentren für Motorik, auditive und räumlich-visuelle Wahrnehmung vergrößert sind. Besonders bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Musik auch für Sprache zuständige Zentren aktiviert, nämlich das Wernicke- und das Broca-Areal. Letzteres ist dafür zuständig, Elemente zu einem Gesamtbild zusammezufügen und ist so für Sprache und Musik gleichermaßen von Bedeutung. Das Broca-Areal synthesisiert Wörter zu Sätzen, aber auch Töne zu Melodien.
„Diese Tatsache zeigt, wie dicht Sprache und Musik miteinander verbunden sind. Folgendes leiten die Forscher aus diesen Erkenntnissen ab: Musikunterricht fördert das Sprachverständnis und das Wortgedächtnis bei Kindern und unterstützt Kinder mit Störungen der Sprachentwicklung.“
Gehirnhälften und Musik
Lars Oberhaus hatte auf die „generell emotionale Qualität“ von Musik hingewiesen. Musik wird demzufolge, wie auch Bewegung und Tanz, tendenziell der rechten Gehirnhälfte zugeordnet. Sprachliche Leistungen zählen dagegen zu den Aufgaben der linken Gehirnhälfte. So wie Logik, Rechnen und generell jedes analytische Denken. Musizieren ist also eine ganzheitliche Aktivität. Sie bringt besonders ausgeprägt Bereiche beider Gehirnhälften in ein Zusammenspiel. Tatsächlich kann die Hirnforschung den dauerhaften Effekt dieses Zusammenspiels nachweisen: „Mithilfe der Schnittbilder des menschlichen Gehirns zeigt sich, dass in Musikerhirnen die Verbindung zwischen rechter und linker Gehirnhälfte, das sogenannte Corpus callosum, deutlich kräftiger ausgebildet ist.“
Die Schwerpunkte der Grundschulbildung liegen in der Regel dagegen auf Spezialitäten der linken Gerhinhälfte: Lesen, Schreiben, Rechnen und Grammatik. Musizieren und insbesondere Musikalische Früherziehung zielt also demgegenüber darauf ab, dass Kinder nicht verlernen, die rechte Gehirnhälfte zu benutzen. Mit anderen Worten kann Musik das ideale Medium sein für die wünschenswerte und produktive Zusammenarbeit beider Gehirnhälften.
Die Musikalische Früherziehung als modernes Konzept in der Musikpädagogik
Bis in die 60er Jahre hinein fehlte jede Institutionalisierung im Bereich vorschulischer musikalischer Arbeit mit Kindern, so dass entsprechende Versuche individuell von Engagement und Fähigkeiten einzelner Lehrkräfte abhing. Erst 1961 gründete Carl Orff ein „Institut für die authentische Ausbildung von Lehrkräften“ in Salzburg, in dessen Folge sich ein Absolventenkreis bildete, der das musikpädagogische Konzept des Orff-Schulwerks in bis heute 46 Länder verbreitete.
1968 war es der Verband deutscher Musikschulen, der den Begriff der Musikalischen Früherziehung einführte. Sein „Curriculum Musikalische Früherziehung“ gilt als wegweisend und wurde in den 80er Jahren in den Musikschul-Lehrplänen für die musikalische Grundstufe vier- bis sechsjähriger Kinder verankert. Seine Inhalte sind: Singen, Tanz und Bewegung, Instrumentenkunde, Musikhören, elementares Instrumentalspiel (hier: Glockenspiel und Orff-Instrumentarium), elementare Notenlehre und Improvisation. Eine Kindergartenfassung des Curriculums blieb allerdings ohne nennenswerte Resonanz. Zwar sind musikalische Aktivitäten in Kindergärten durchaus Teil des didaktischen Konzepts, der Begriff der Musikalischen Früherziehung wird aber in der Regel nur bemüht, wenn Musik einen besonderen Schwerpunkt der jeweiligen Einrichtung ausmacht. Ab Mitte der 70er Jahre bieten die ersten Musikhochschulen und Konservatorien eine Lehrerausbildung für „Musikalische Früherziehung“ an. 1976 wird in Nordrhein-Westfalen der deutschlandweit erste Studiengang für „Elementare Musikpädagogik“ eingerichtet.
Die Musikalische Früherziehung bei Carl Orff
Carl Orff, einer der bedeutendsten Musikpädagogen des 20. Jahrhunderts, verwendete für den Bereich der ersten musikalischen Erfahrungen Begriffe wie „Elementare Musik“ und „Elementare Musikpädagogik“ und beschrieb ein Handlungsfeld, in dem Musik, Bewegung und Sprache eine ursprüngliche Einheit bilden: „Elementare Musik ist nie Musik allein, sie ist mit Bewegung, Tanz und Sprache verbunden, sie ist eine Musik, die man selbst tun muß, in die man nicht als Hörer, sondern als Mitspieler einbezogen ist. Sie ist vorgeistig, kennt keine große Form, keine Architektonik, sie bringt kleine Reihenformen, Ostinati und kleine Rondoformen. Elementare Musik ist erdnah, naturhaft, körperlich, für jeden erlern- und erlebbar, dem Kinde gemäß.“
Orff-Schulwerk
Die Musikpädagogik Carl Orffs steht der auch von der modernen Hirnforschung bestätigte ganzheitliche Aspekt der Beziehung zwischen Mensch und Musik im Mittelpunkt. Das Kind soll dabei unterstützt werden, seine schöpferischen Möglichkeiten zu entfalten. Daher ist nicht das Nachspielen Zweck der musikalischen Früherziehung, sondern die Verbindung von Musik, Bewegung und Improvisation. In ihren zwischen 1932 und 1954 veröffentlichten die Werkreihen „Elementare Musikübungen“ und „Musik für Kinder“. Hier entwickelten Orff und seine Mitstreiterinnen Gunild Keetman und Gertrude Orff „notierte Modelle für einen handlungsorientierten Musikunterricht“. Werden diese „Sprach-, Lied- und Instrumentalgestaltungen“ allerdings ohne Bewegung und Improvisation umgesetzt, dann verlieren sie ihr Potential.
Orff-Instrumentarium
Für Orff und Keetmann gab es für die musikalische Früherziehung besonders geeignete Musikinstrumente. Sie zeichnen sich durch ihren einfachen Zugang und die leichte Spielbarkeit aus. Ihr Klang inspiriert Kinder zum Ausprobieren. Sie zielen auf eine möglichst natürliche Ausprägung des musikalischen Gehörs. Sie sind auch schon für kleine Kinder spielbar:
- Glockenspiel
- Metallophon und Xylophon
- Pauken, Trommeln, Schellentrommeln
- Schellen, Schellenring
- Holzblocktrommeln
- Rasseln, Maracas
- Becken, Triangeln
- Fingercymbeln, Kastagnetten
Die Orff-Instrumente gehören mittlerweile zum Kernbestand eines jeden qualifizierten schulischen Musikunterrichts. Schon in der musikalischen Früherziehung stellen sie sicher, dass Kinder nicht überfordert werden und spielerisch das Musizieren ohne Vorbildung beginnen und entdecken können.
Die Musikalische Früherziehung bei Rudolf Steiner
Auch der pädagogische Ansatz Rudolf Steiners strebt nach einer ganzheitlichen Entwicklung des Menschen. Es soll hier nicht das spezielle Menschenbild Steiners erklärt werden. Seine Vorstellung aber vom Denken, Wollen und Fühlen als drei zu integrierende „seelische Bereiche“ entspricht zunächst durchaus den Bestrebungen nach Ganzheitlichkeit auch anderer pädagogischer Richtungen. Allerdings verfolgt Steiner ein Stufenmodell der Bewusstseinsentwicklung. Die Musik als am wenigsten (die physische Welt) abbildende Kunst fungiert dabei als Brücke zur geistig-seelischen Sphäre. Über die verschiedenen Intervalle kommt der Mensch ausgehend von der Quinte (und einer daraus resultierenden grundtonfreien Pentatonik), über den Dreiklang und schließlich einer durch die Sekunde konstituierten Musik stufenweise bis zu einem einheitlichen und umfassenden Weltverständnis.
Die frühkindliche Musikerziehung beginnt dementsprechend mit der spielerischen Erkundung eines pentatonischen Raums, in dem es keine falschen Töne gibt. Hier kann ohne Angst vor Fehlern improvisiert werden. Es entsteht „für das Kind Sicherheit im Selbst- und Welterleben und – nicht zuletzt – im Tun“ (Michael Kalwa). In den zentralen Elementen der Handlungsorientierung und Improvisation stimmt Steiners musikpädagogischer Ansatz dabei mit der musikalischen Früherziehung im Sinne Orffs überein.
Fazit
Hans Günther Bastian betonte in einem Zeit-Interview aus dem Jahr 2000: „…es darf nicht weiter so einseitig in die Verhirnlichung der Schüler investiert und die Versinnlichung so vernachlässigt werden. Die Hinrichtung der Sinne im Medienzeitalter führt dazu, dass Sinngestaltung für uns zum Problem wird. Sinn, Denken, Bewusstsein kommt doch immer erst durch unsere Sinne in Gang.“
Musikalische Früherziehung ist der ideale Weg, Sinne und Sinngestaltung in ein dauerhaft kreatives Verhältnis zu setzen. Das Potential frühkindlicher Musikerziehung geht dabei weit über die Vermittlung von musikalischen Grundfähigkeiten hinaus. Das kreative Zusammenspiel unterschiedlicher Gehirnareale ist ein willkommenes Gut in allen Lebenssituationen und in jedem Lebensalter.
Quellenverweise:
- Prof. Dr. Lars Oberhaus: Frühkindliche musikalische Bildung. Zur Bedeutung von Musik in der Kindheit.
https://www.uni-oldenburg.de/fileadmin/user_upload/musik/download/Oberhaus/Fru__hkindliche_musikalische_Bildung_Oberhaus.pdf - Musik macht klug. Ein Gespräch mit dem Frankfurter Pädagogikprofessor Hans Günther Bastian. Zeit-Online, http://www.zeit.de/2000/15/200015.musikunterricht_.xml
- Carl Orff: Das Schulwerk – Rückblick und Ausblick. In: Orff-Institut Jahrbuch, Bd. 2 (1963)
- Hans Erik Deckert: Was ist das Musikalische? Rudolf Steiners musikalische Impulse für eine zukünftige Muskpädagogik.
- Michaela Lieber: Frühkindliche Musikerziehung.
https://www.familien-magazin.com/fruehkindliche-musikerziehung/ - Manuela Widmer: Musikalische Früherziehung – Didaktische Grundlagen.
- http://www.kindergartenpaedagogik.de/73.html
- Michael Kalwa: Zum Musikunterricht in Waldorfschulen. https://www.wittenannen.net/uploads/media/Musikunterricht_Waldorfschulen.pdf
- https://de.wikipedia.org/wiki/Musikalische_Fr%C3%BCherziehung
- http://www.br.de/themen/wissen/musik-forschung-hirnforschung-100.html
- Gabriele Zimmermann: Was Musik im Gehirn bewirkt https://musikdidaktik.net/2016/10/musizieren-veraendert-das-gehirn/
- Doppelte Herausforderung fürs Gehirn. Sprache und Musik werden in der gleichen Hirnregion verarbeitet – https://www.mpg.de/9735071/hirnareal-sprache-und-musik
- https://de.wikipedia.org/wiki/Orff-Schulwerk
- http://www.fsfm.de/Musikalische-Grundkurse.66.0.html
Liebes Team,
ein fantastischer Artikel rund um die Musik für jede Sängerin, jeden Künstler, jeden Comedian: für alle das Richtige dabei! Besonders das Fazit ist echt stark – das sollten sich alle Lehrer und Lehrplan-Koordinatoren einmal zu Herzen nehmen!
Vielen Dank für Ihren wertschätzenden Kommentar!
Alles Gute wünscht Ihnen
Ihr SpielundLern.de-Team