Zeitungsartikel in der Berliner Morgenpost von Julian Johannsen, Kl. 8b, Schiller-Gymnasium, Potsdam, erschienen Montag, 6. Juli 2009.
In der Vorschule war für mich kleiner Junge die Welt noch in Ordnung. Die Vorschullehrerin sagte immer, ich sei ein schlaues und gewieftes Kerlchen, es werde Zeit, dass ich in die Schule komme. Mit gerade sechs Jahren wurde ich eingeschult. In den ersten Wochen verlief noch alles gut. Die Mädchen konnten zwar besser sitzen und ruhig zuhören, aber letztendlich machte uns Kindern die Schule Freude. Zu den Weihnachtsferien kam der große Frust. Die meisten konnten erste Wörter langsam, aber verständlich vorlesen und richtig schreiben. Ich aber hatte dabei noch immer ein großes Problem.
Zum Ende der ersten Klasse konnte ich noch immer nicht lesen und schreiben. So geht es vielen Kindern, die Legasthenie haben. Es ist für die anderen Kinder nicht zu begreifen und deshalb haben wir Legastheniker es auch im sozialen Umfeld schwer. Die Klassenkameraden glauben, wir seien dumm und wir seien schlechte Schüler. Bei uns Legasthenikern vertauschen sich Silben und Buchstaben. Wir schaffen es nicht, Buchstaben zu verständlichen Wörtern zusammen zu setzen. Wir lernen nur sehr langsam und spät lesen und in unseren schriftlichen Texten wimmelt es nur so vor Fehlern. Die häufigste Frage war bei mir: ?Warum ich, warum!? Diese Krankheit verursacht Lustlosigkeit in Zusammenhang mit der Schule. Es schien damals, dass nichts mehr hilft. In der dritten Klasse empfahl der Deutschlehrer meinen Eltern, mich auf eine Sonderschule zu schicken. Daraufhin besuchten meine Eltern mit mir das Charité-Klinikum. Wir wendeten uns hilfesuchend an die Schulpsychologin und fingen eine Therapie an. Diesen Menschen will ich heute ganz besonders danken, denn sie stärkten wieder mein Selbstbewusstsein: Schließlich bin ich nicht doof, ich habe eine Krankheit bzw. Lernschwäche.
Durch meine Krankheit wurde ich bis zur zehnten Klasse von der Rechtschreibnote befreit. Ich konnte mich endlich wieder auf die Schule und andere Fächer konzentrieren. Mathematik, Physik und Chemie wurden meine absoluten Stärken. Ich gehe wieder gerne zur Schule und habe Freude an vielen Fächern. Beim Schreiben hilft mir das Rechtschreibprogramm des Computers. Inzwischen kann ich mir die Frage ?warum ich? beantworten, denn diese Krankheit ist vererbbar. Legasthenie wurde von meinem Großvater auf meinen Vater und auf mich vererbt. Jetzt, mit 14 Jahren, habe ich begonnen, mein erstes Buch zu lesen. Es ist ein sehr spannendes Buch. Ich gehöre zu den Kindern, die Dank der großen Unterstützung meiner Eltern auf ein Gymnasium gehen, weil sie nie aufgegeben haben, an mich zu glauben. Ich will alle Legastheniker und die betroffenen Eltern ermutigen, für ihren Wechsel in eine weiterführende Schule zu kämpfen. Wir Legastheniker haben große Vorbilder wie Albert Einstein, Thomas Edison, Leonardo da Vinci, und den Schriftsteller Hans Ch. Andersen. Sie alle waren Legastheniker – und wer traut sich jetzt noch zu sagen, dass Legastheniker auf die Sonderschule gehen sollten?
Noch stehen wir Legastheniker in Berlin und Brandenburg vor dem Problem, dass wir nur bis zur zehnten Klasse von der Rechtschreibnote befreit sind. In Bayern gibt es bereits ein Gymnasium speziell für Legastheniker. Somit gibt es keine Chancengleichheit in Deutschland für Legasthenikerkinder. Deshalb will ich Euch alle auffordern: Stürmt die Gymnasien, wir haben eine Menge im Hirn und lasst uns gemeinsam für die Befreiung von der Rechtschreibnote bis zum Abi kämpfen!
Euer Julian, der mit 14 Jahren noch immer keinen einzigen Satz ohne Fehler schreiben kann.
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