Interreligiöses Lernen

In Deutschland dürfen Menschen wegen ihres Glaubens beziehungsweise ihrer religiösen Anschauungen weder benachteiligt noch bevorteilt werden. Sie dürfen ihre Religion frei wählen. Kirchen sind nicht dem Staat unterstellt. Dieser besitzt zwar ein Aufsichtsrecht an Schulen. Jedoch muss Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt werden. Die Inhalte sollen nicht bloß informativ sondern authentisch, „wahrhaftig“, vermittelt werden. Erziehungsberechtigte können ihr Kind vom Religionsunterricht abmelden. Das alles geht aus dem Grundgesetz (Artikel 7) hervor und muss bei der formellen Organisation und der Umsetzung von Religionsunterricht berücksichtigt werden. Die Verfassung entstand vor mehr als 70 Jahren. Das bedeutet natürlich nicht, dass die dortigen Formulierungen inzwischen obsolet wären. Aber die Situation ist heute vielfältiger. Und vielleicht sollte – in der Praxis! – eine Anpassung an die geänderte Lage erfolgen. Interreligiöses Lernen wäre da womöglich eine Option. Nach dem Verbrechen der Judenverfolgung lebten nur noch wenige Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland. Und es gab noch extrem wenige Muslime. Wenn in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg Religionsunterricht nach Konfession getrennt wurde, ging es fast überall nur um „katholisch“ und „evangelisch“. Die Lebenswirklichkeit heute sieht anders aus.

Interreligiöses Lernen: weil sich die Zeiten ändern

Vom Großteil der Gesellschaft wird es inzwischen als selbstverständlich erachtet, dass in Deutschland Gläubige vieler verschiedener Religionen leben. Aber es halten sich auch Vorurteile. Ein Mangel an Respekt und Toleranz ist leider seitens Minderheiten aller Religionen festzustellen. Alles in allem jedoch herrschen Einsicht und Sensibilität dafür vor, dass der Glaube anderer Menschen respektiert und toleriert werden sollte. Bisher findet Religionsunterricht an öffentlichen Schulen getrennt nach Glaubensrichtungen statt. Das hat mit dem Grundgesetz zu tun. Es ist aber auch verfassungskonformer interreligiöser Unterricht möglich. Dieser wird neuerdings an Projektschulen erprobt und stößt auf ein weitgehend positives Echo. Er bietet die Möglichkeit, Schüler*innen nicht nur über die eigene sondern auch andere Religionen profund aufzuklären und in der Klasse einen Austausch anzuregen. So werden Wissenslücken geschlossen, falsche Überzeugungen korrigiert, Verständnis geweckt und Toleranz gefördert.

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Vor allem wird Lebensnähe erzeugt, denn ein anderer Glaube wird direkt von Mitschülern vertreten und gelebt, und die können unmittelbar dazu befragt werden, wie sie ihre Religion auslegen, was sie ihnen bedeutet und welche Zweifel sie vielleicht auch haben. Dieser Austausch sollte als eine große Chance betrachtet werden. Religionsunterricht kann sehr trocken sein. Wenn die Schüler*innen aber ins Gespräch kommen, lernen sie ganz von alleine. Sehr viele werden dadurch mehr Respekt vor anderen Religionen entwickeln und umso besser begreifen, warum Toleranz wichtig ist. Es kann aber auch darüber debattiert werden, wo Grenzen der Toleranz liegen könnten. Das mag kein ureigenes Thema des Religionsunterrichts sein – wichtig ist es aber in jedem Fall, und interreligiöses Lernen eröffnet eine gute Möglichkeit, sich damit zu befassen.

Was hat Religionsunterricht heute in der Schule noch zu suchen?

Wir leben im 21. Jahrhundert, transportieren mit Raketen Fahrzeuge auf den Mars, welche dort gesammelte Daten an die Erde übermitteln. Wir haben das menschliche Genom entschlüsselt und wissen ziemlich präzise, was unmittelbar nach dem Urknall geschah. Trotzdem sind die samt und sonders vor ewigen Zeiten entstandenen Weltreligionen noch von großer Bedeutung. Atheisten mögen darüber noch so sehr staunen, aber der Einfluss der großen Glaubensrichtungen lässt sich nicht beiseiteschieben. Leider tragen nicht zuletzt die Konflikte, die Religionen erzeugen, dazu bei, dass man sie einfach nicht ignorieren kann.

Vielen gilt der Buddhismus als besonders friedliebend. Auch die anderen Weltreligionen predigen Toleranz und Liebe.

Alle Weltreligionen tragen große Weisheit in sich und gleichen einander in vielen Kernaussagen. Von jenen zielen etliche darauf ab, das Zusammenleben der Menschen zu regeln und zu verbessern. Dennoch führt Religion immer wieder zu Abgrenzung, Hass und Krieg. Genau das ist der Grund, warum ein Staat diesem Thema Beachtung schenken muss. Eine Demokratie garantiert den Menschen Glaubensfreiheit und Gleichbehandlung. Eine freiheitliche Gesellschaft kann bei Intoleranz und Feindseligkeit nicht die Augen verschließen und sollte, wenn sie kann, auch präventiv tätig werden. Das muss sich konsequenterweise auch in der Schulbildung niederschlagen.

Interreligiöses Lernen – Chance für die Gesellschaft

Sämtliche Glaubensgemeinschaften besitzen eigene Institutionen, die für Religionsunterricht sorgen. Und die meisten Kinder lernen das Praktizieren ihrer Religion von den Eltern. Religiöser Glaube ist zudem etwas sehr Persönliches. Der Staat hingegen hat Neutralität zu wahren. Seine Aufgabe besteht eher darin, dem Fortschritt und daran ausgerichteten Entwicklungen gerecht zu werden. Man könnte es also für unangebracht und anachronistisch halten, dass an öffentlichen Schulen Religion unterrichtet wird.

In Frankreich zum Beispiel gibt es keinen Religionsunterricht an staatlichen Schulen. Die Gleichheit aller Religionen vor dem diesbezüglich neutralen Staat hat dort noch mehr Gewicht als hierzulande. Es gibt allerdings kritische Stimmen, die behaupten, dass gerade dadurch ein Vakuum entstehen konnte, dass von radikalen Gruppen ausgenutzt wird. Indem der Staat nirgendwo direkt in religiöse Erziehung involviert ist, hat er auch besonders wenig Einfluss auf Inhalte. Religionsunterricht in der Schule kann ein Gegengewicht zu radikalen Verführern bieten, indem die Schülerinnen und Schüler dort gewissenhaft, differenziert und sachlich korrekt informiert werden.

Diesem Argument folgend erschiene es gerade in einem Land wie Frankreich, wo, anders als in Deutschland, der christliche Religionsunterricht an Schulen keine Tradition hat, sinnvoll, einen interreligiösen Unterricht zu etablieren, in welchem von Beginn an alle Glaubensrichtungen als gleichberechtigt betrachtet werden und in Berührung und Austausch kommen. Selbstverständlich steht es uns nicht zu, unseren Nachbarn Ratschläge zu erteilen, zumal wir selbst uns mit entsprechenden Schritten schwertun. Immerhin: Es tut sich etwas in Hamburg.

Interreligiöser Unterricht im Hamburger Weg

Hamburg galt schon immer als tolerant und offen. Vielleicht liegt es am Hafen und Anschluss an die große weite Welt.

Hamburg geht schon seit langer Zeit einen eigenen Weg. Hier ist der Religionsunterricht seit Beginn der Nachkriegszeit nicht getrennt. Das nennt sich „Religionsunterricht für alle in evangelischer Verantwortung“ und bedeutet, dass die Lehrkräfte evangelisch sind aber für alle unterrichten. Dieses Konzept wurde von der Gesellschaft erstaunlich gut angenommen. Es gab nur sehr wenige Abmeldungen vom Religionsunterricht. Dieses Modell soll nun weiterentwickelt werden. Seit 2019 stehen an zwei Hamburger Pilotschulen auch andere Glaubensgemeinschaften (muslimische, alevitische und jüdische) in der Mitverantwortung. Schulsenator Rabe ist hier eine treibende Kraft und sagt, Austausch und Begegnung zu organisieren, sei besser als Separation. Der Ehrenvorsitzende der Alevitischen Gemeinde Ismail Kaplan glaubt, die Friedens- und Dialogfähigkeit von jungen Menschen ließe sich mit gemeinsamem Religionsunterricht besser fördern als mit getrenntem.

Spricht auch etwas gegen interreligiöses Lernen?

Vielleicht der häufigste Einwand gegen interreligiöses Lernen wie beim Hamburger Weg ist, dass die religiöse Identität der Schülerinnen und Schüler aufweichen könnte. Ein durchmischter Unterrichtet hebe nach und nach die Unterschiede zwischen den Glaubensrichtungen auf. Dies ist natürlich möglich, und diesbezüglich müssen noch Erfahrungen gesammelt werden.

Aber ließe sich eine solche Verwässerung tatsächlich auf das Konzept des interreligiösen Lernens zurückführen? Ausschlaggebend wäre doch vielmehr, wie der Unterricht letzten Endes konzipiert und umgesetzt wird. In Hamburg ist man sehr bemüht, solchen Bedenken Rechnung zu tragen. Dennoch: Das Argument, dass Menschen sich zunächst bestens in ihrer eigenen Religion gut auskennen sollten, um eine verlässliche Basis für den Dialog zu haben, ist nachvollziehbar. Dieses Wissen befähige sie nämlich erst dazu, sich differenziert und konstruktiv mit anderen Religionen auseinanderzusetzen.

Dass nur ein nach Glaubensrichtungen getrennter Religionsunterricht die nötige Wissensvermittlung leisten kann, ist zwar bloß eine Annahme. Und es ist auch nicht gesagt, dass dort – es handelt sich immerhin nur um Schulunterricht – eine echte Verwurzelung im Glauben erreicht wird. Aber schließlich verlangt das Grundgesetz, dass Religion auch beim interreligiösen Lernen im dialogischen Religionsunterricht authentisch unterrichtet werden muss, also nicht lediglich wie ein Sachkundethema behandelt werden soll. Können das die Lehrkräfte leisten? Mehr als 90% der Hamburger Religionslehrer*innen sind evangelisch. In der Praxis scheint das in einigen Fällen gut zu funktionieren. Doch von denen darf nicht einfach so aufs Allgemeine geschlossen werden. In jedem Fall müssen auch entsprechende Fortbildungen und Studiengänge für künftige Lehrkräfte geschaffen werden. Womöglich werden für interreligiöses Lernen im Religionsunterricht Lehrerteams erforderlich sein. Folglich werden Lehrkräfte benötigt, die nicht evangelisch sind – und zwar viele.

Können Lehrkräfte Religionen authentisch unterrichten, die nicht ihre eigenen sind?

Fazit

Interreligiöses Lernen birgt eine große Chance. Sämtliche Weltreligionen sind vor langer Zeit entstanden. Religionsunterricht muss nicht zuletzt Bezug zum Heute herstellen, auch zur Demokratie und den damit verbundenen Grundprinzipien. Zwar ist das nicht sein eigentliche Aufgabe. Aber der Gedanke, dass jeglicher an öffentlichen Schulen stattfindender Unterricht auch der Gesellschaft insgesamt verpflichtet ist, erscheint sicher nicht abwegig. Laut Verfassung darf der Staat beim Religionsunterricht keine Inhalte vorschreiben. Es steht ihm aber frei, darauf hinzuwirken, dass die vertretenen Glaubensrichtungen zusammenarbeiten und sich auf Unterrichtskonzepte einigen, welche Verständnis und Toleranz fördern sollen.

Von den Erfahrungen, die Hamburg bislang auf seinem Sonderweg gemacht hat, kann ganz Deutschland profitieren. Dabei war auch Glück im Spiel. Denn wer hätte im Voraus gedacht, dass sich so viele Glaubensgemeinschaften – auch vermeintlich verfeindete – so bereitwillig und weitgehend reibungslos auf ein Konzept des interreligiösen Lernens im Religionsunterricht einigen würden? Das war nicht unbedingt zu erwarten und ist bemerkenswert. Einmal angenommen, es würde nun – aus welchem Grund auch immer – ein Streit entbrennen und das Projekt gefährden: Es würde nichts daran ändern, dass die grundsätzliche Idee bei den Beteiligten auf viel Sympathie und sogar Wohlwollen, teils sogar auf Begeisterung stieß. Viele Menschen sind anscheinend weiter, als Politik und Institutionen es ihnen zutrauen. Das sollte beim weiteren Nachdenken über Religionsunterricht und interreligiöses Lernen bedacht werden. Die Entscheidungsträger*innen sollten aufmerksam nach Hamburg blicken.

Quellen und weitere Informationen

  • „Lernen, was die Mitschüler glauben“, ZEIT, 2021, Nr.23
  • https://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2018-05/interreligioeser-unterricht-schule-konfessionen-verstaendigung
  • https://chrismon.evangelisch.de/artikel/2013/kirchentag-2013-kommentar-von-buz-18687
  • https://chrismon.evangelisch.de/kolumnen/auf-ein-wort/48461/praeses-annette-kurschus-ueber-den-religionsunterricht-fuer-alle
  • https://chrismon.evangelisch.de/artikel/2020/48063/religionsunterricht-fuer-alle-konfessionen
  • https://www.bibelwissenschaft.de/wirelex/das-wissenschaftlich-religionspaedagogische-lexikon/wirelex/sachwort/anzeigen/details/forschung-empirische-interreligioes/ch/cf5b2a5ba13e296d1b386b0d09f89868/

Bildquellen

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