Der Begriff Ganztagsschule gilt nach Definition der deutschen Kultusministerkonferenz für Schulen im Primär- oder Sekundarbereich I, die es Schülern und Schülerinnen ermöglichen, auch nachmittags vor Ort zu bleiben. Es darf sich nicht um bloße Beaufsichtigung handeln. Obligatorisch ist zum Beispiel ein bereitgestelltes Mittagessen. Außerdem müssen betreute Lern- und Freizeitmöglichkeiten existieren. Dieses Angebot muss über eine Mindestdauer von sieben Zeitstunden bestehen.
Es gibt gebundene und offene Ganztagsschulen. Bei den offenen Ganztagsschulen ist die Nutzung des Angebots freiwillig, bei den gebundenen verpflichtend. Außerdem müssen gebundene Ganztagsschulen die Nachmittagsbetreuung an jedem Schultag aufrechterhalten. Bei vielen erstreckt sich das Angebot bis in den Frühabend. Es existieren auch teilweise gebundene Ganztagsschulen, bei denen der nachmittägliche Verbleib an der Schule nur bestimmte Klassen oder Gruppen betrifft.
Der Gedanke hinter gebundenen und offenen Ganztagsschulen
Der aktuell stattfindende Ausbau der Ganztagsbetreuung hat sehr viel mit den Ergebnissen der PISA-Test zu tun, welche erhoben werden, um die Leistungen der Schülerinnen und Schüler international vergleichbar zu machen. Deutschland schnitt in der Vergangenheit erschreckend schlecht ab und hinterfragte das bestehende System. Der Blick auf die besonders erfolgreichen Länder zeigte, dass die meisten auf Ganztagsschulen setzen. Es gibt durchaus Länder mit Ganztagsschulsystem, die noch schlechter als Deutschland abschnitten. Dennoch wurde die Ganztagsbetreuung als ein zumindest wichtiger Faktor erkannt.
Bei der Debatte über gebundene und offene Ganztagsschulen ist auch die ungleiche Chancenverteilung im Bildungsbereich ein großes Thema. In den vergangenen Jahren wurde wiederholt festgestellt, dass der Bildungserfolg ganz besonders in Deutschland von der sozialen Herkunft abhängt. Ganztagsschulen sollen dazu beitragen, diesen Missstand zu beheben. Zum Beispiel finden Kinder aus bildungsfernen Familien dort Unterstützung bei der Bearbeitung ihrer Hausaufgaben. Sie halten sich durch die Nachmittagsbetreuung länger in einem Umfeld auf, in welchem Bildung ein hoher Wert zugesprochen wird. Immer stehen Lehrkräfte zur Verfügung, aber auch die Mitschüler können – möglicherweise noch viel wertvollere – Hilfe leisten. Auch eine bestehende oder drohende soziale Verwahrlosung kann durch das Nachmittagsangebot abgefedert, wenn nicht sogar verhindert werden. Aufgrund der verpflichtenden Anwesenheit ist das ein deutlicher Vorteil der gebundenen gegenüber den offenen Ganztagsschulen.
Ein weiterer beabsichtigter Effekt ist die stärkere soziale Durchmischung. Dies gilt auch für die offene Ganztagsschule. Indem der Unterricht nachmittags entspannter als vormittags abläuft und gemeinsame Freizeitaktivitäten stattfinden, kommt es zu mehr Kontakt der Schüler/-innen untereinander als an den Vormittagen, welche fast ausschließlich durch Unterricht vereinnahmt werden. So sammeln die Kinder Erfahrungen außerhalb ihrer üblichen Kreise. Menschen mit einem unvertrauten sozialen Hintergrund besser kennenzulernen, schult darin, sich auf andere einzustellen. Kinder und Jugendliche sind tendenziell sehr viel offener als Erwachsene und geben ihre eventuell bestehenden Vorurteile oder Vorbehalte leichter auf. Kurz gesagt: Es besteht eine gute Chance, dass Kinder an gebundenen oder offenen Ganztagsschulen mehr Toleranz lernen und ihre sozialen Kompetenzen trainieren.
Ganztagsschulen zahlen sich sogar finanziell aus
Wie meistens wird in der politischen und gesellschaftlichen Debatte um Ganztagsschulen die Frage nach der Finanzierbarkeit gestellt. Kurzfristig mag der Ausbau Geld kostet. Es spricht allerdings viel dafür, dass sich die Investition mittel- und langfristig finanziell sogar lohnt. Das zeigt beispielsweise eine Studie, die von der Bertelsmann Stiftung in Auftrag gegeben wurde. Immer vorausgesetzt, dass bei dem Wechsel zu Ganztagsschulen für eine gute Lehr- und Betreuungsqualität gesorgt wird, ist zu erwarten, dass – wie angestrebt – mehr zuvor benachteiligte Schülerinnen und Schüler bessere Noten erzielen, höhere Abschlüsse machen auf diese Weise im Erwachsenenalter besser verdienen und letzten Endes mehr Steuern bezahlen, während ein geringerer Bevölkerungsanteil auf staatliche Unterstützung angewiesen ist. Auch die Ganztagsbetreuung selbst kann zu mehr Arbeitsstunden der Eltern, somit zu mehr Einkommen und höheren Einnahmen der öffentlichen Kassen führen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung ist zum quasi gleichen Schluss gelangt.
Und das ist nur die wirtschaftliche Betrachtungsweise. Es bedarf wohl keiner näheren Ausführung, warum eine Gesellschaft insgesamt von einem höheren Bildungsniveau in der Breite profitiert.
Potenzielle Vorteile eines Ganztagsschulsystems:
- An den Nachmittagen herrscht geringerer Zeitdruck. Bei selbstständiger Arbeit (Hausaufgaben, Referate) ist Unterstützung gegeben. Anders als bei Schulhorten gilt an Ganztagsschulen auch nachmittags der Bildungsauftrag.
- Ausgeglichenere Bildungschancen durch bessere Fördermöglicheiten
- Bessere soziale Durchmischung: fördert höheren gesellschaftlichen Zusammenhalt, fördert soziale Kompetenzen.
- Freizeitangebote wie Sport und Musikunterricht an der Schule können auch von Kindern aus gering verdienenden Familien wahrgenommen werden.
- Bessere Arbeitsvoraussetzungen für beide Elternteile.
- Bei guter Umsetzung: höheres durchschnittliches Bildungsniveau insgesamt.
Potenzielle Nachteile eines Ganztagsschulsystems:
- Vor allem aus den Reihen derer, die einem traditionellen Familienbild zugeneigt sind, wird die Kritik geäußert, dass der Einfluss der Eltern auf die Erziehung ihrer Kinder abnimmt.
- Die Kinder verfügen über weniger selbstbestimmte Freizeit.
- Die Wahl und Nutzung außerschulischer Freizeitangebote wird erschwert, da weniger Zeit dafür vorhanden ist.
- Stress: Das schulische Umfeld kann anstrengend sein, schon allein durch den dauernden Lärmpegel und geringe Rückzugsmöglichkeiten.
- Offene Ganztagsschulen: Sind nicht konsequent und können viele Hoffnungen nicht erfüllen.
- Jüngere Forschungsergebnisse legen nahe, dass die Ganztagsschule für sich genommen nicht zu besseren Leistungen führt. Bessere PISA-Ergebnisse in den entsprechenden Länder scheinen eher an mehr Fortschrittlichkeit im Bildungssystem zu liegen.
- Die hoch gesetzte Hoffnung in die Ganztagsschule kann darüber hinwegtäuschen, dass für den Bildungserfolg vor allem die Qualität des Unterrichts und der Betreuung entscheidend ist. Diese wiederum richtet sich großteils nach dem Betreuungsschlüssel und der Ausbildungsqualität der Lehrkräfte. Auch die Chancengleichheit hängt zu einem beträchtlichen Teil genau davon ab.
Aktueller Stand bei der Umstellung zur Ganztagsschule
In den letzten zehn Jahren hat sich der Anteil der an Ganztagsschulen betreuten Kinder und Jugendlichen erheblich gesteigert und lag 2018 bei knapp 70%. In diese 70% gehen allerdings alle Schulen mit Ganztagsangeboten ein. Offene Ganztagsschulen machen dabei einen beträchtlich höheren Anteil als die gebundenen aus. Außerdem schwankt das Ganztagsangebot von Bundesland zu Bundesland erheblich: von wenigen Prozent bis hin zu deutlich über neunzig Prozent.
Ein Hindernis beim weiteren Ausbau der Ganztagsbetreuung stellte die lange währende Auseinandersetzung über die Kostenverteilung dar. Das vom Bund eingerichtete Sondervermögen zur Unterstützung die Länder, befanden diese als zu niedrig. Dieser Streit ist inzwischen hoffentlich beigelegt, da der Bund seinen Finanzierungsbeitrag erheblich erhöht hat.
Quellen
- https://www.deutschlandfunk.de/langzeitstudie-zu-ganztagsschulen-viel-freiwillige-angebote.680.de.html?dram:article_id=463013
- https://de.statista.com/statistik/daten/studie/610417/umfrage/schueler-an-ganztagsschulen-in-deutschland-nach-bundeslaendern-nach-angebotsform/
- https://www.bmbf.de/de/ganztagsschulforschung-studie-zur-entwicklung-von-ganztagsschulen-85.html
- https://www.ganztagsschulen.org/de/32176.php
- https://www.deutschlandfunk.de/ausbau-von-ganztagsschulen-es-kommt-auf-fachlich-fundierte.680.de.html?dram:article_id=465406
Ich war an verschiedenen Schulen für die Nachmittagsbetreung (OGTS) der Kinder zuständig. Bei meiner Einstellung und der Neueinstellung von Kollegen wurde meist betont, dass wir bei den Hausaufgaben nicht helfen müssten und auch nicht dürften, da das die Lehrkräfte nicht schätzen. Ich konnte von Grund-, Mittel-, Realschüler und Gymnasium in sämtlichen Fächern (inklusive Latein) sehr gut helfen, da ich entsprechende Ausbildung hierfür habe (Abitur, Wirtschaftskorrespondenz Engl/ Franz, nicht bestandenes Lehramtsstudium Gym und Staatl.anerkannter Erzieherausbildung). Als ich sah, welches Personal für diesen Bereich eingestellt wird, wurde mir schnell klar, was man mit „Nichthelfen bei den Hausaufgaben“ bezweckt. Nur sehr wenige meiner Kolleginnen waren in der Lage zu helfen und zwar weder in Englisch noch in Deutsch, geschweige denn in Mathe, Latein oder Französisch. In der Hausaufgabenbetreuung eines Grundschüler hörte ich zu meinem Entsetzen, dass entsprechende Betreuerin nicht einmal wusste, was eine indirekte Rede ist. Dann gab es Leute, die die Schüler in eine ruhige und eine laute Gruppe aufteilten: in der leisen Gruppe saßen vor allem Mädchen, die am Handy spielten (sowohl Realschüler als auch Gymnasium) und in der lauteten Gruppe tummelten sich lebhafte Jungs um ein Computerspiel am Laptop oder machten alles andere als Hausaufgaben. Eine andere Kollegin (jung) stylte die Frisuren der Mädchen oder ließ jene anstelle von Hausaufgaben malen etc. Dann gab es noch Kolleginnen mit Migrationshintergrund: eine „Türkin“ diskutierte mit Schülerinnen sehr häufig in der Freizeit und vmtl auch während der Hausaufgabenzeit über den Islam und verherrlicht dortige Gepflogenheiten. So waren die 12-/ 13jährigen Schülerinnen binnen kurzer Zeit unter deren Obhut wie verwandelt: sie kamen bei größter Hitze mit langärmligen Shirts und langen Hosen – in grauer oder eben schlichter Farbe (Shorts und sexy Outfits, welche sie vorher trugen waren tabu) und die Jungs, die sie vorher anhimmelten ließen sie plötzlich links liegen. Jene wunderten sich über das plötzliche Desinteresse und die Veränderung der Mädchen – was sich zum Glück nach ein paar Wochen wieder änderte. Dann gab es noch eine Weißrussin, die zwar verhältnismäßig gut Deutsch sprach, aber eben doch mit entsprechend russischem Akzent und Tonfall. Sie sollte Schüler russischer Herkunft, welche alle (1 Neuankömmling) schon bestens Deutsch verstanden und sprachen. Sie konnten auch schon lange problemlos dem regulären Unterricht folgen und wären mit einer deutschen Muttersprachlerin besser versorgt gewesen. Die Willkommensgruppe der Ukrainer, in der ich zum Schluss tätig war, wurden zum Großteil auch von Frauen mit entsprechendem Herkunftsland in Deutsch unterrichtet. Eigentlich waren sie sinnvollerweise dazu angestellt, bei nötigen Sprachbarrieren bei Elterngesprächen, Formularen, zum anfänglichen Erklären der Schulregeln etc zu helfen. Tatsächlich aber unternahmen sie überwiegend den Deutschunterricht. Eine Dame war zu der Zeit einmal in der Lage, einer deutschsprachigen Lehrerkobferenz zu folgen. Diese wurden wegen ihr auf Englisch gehalten. Dann startete ihr Unterricht mit der Übung „Was ist Dein Name /Wie ist Dein Name? – Mein Name ist….“ Mein Einwand folgte prompt: Entschuldige, aber kein Schüler stellt diese Frage auf dem Pausenhof – da werden die Ukrainer mit Frage „Wie heißt Du?“ konfrontiert. Antwort „Ich heiße…“. Sie akzeptierte zwar diesen Einwand, aber nicht ohne Kommentar „Aber die Ukrainer können doch kein h sprechen.“ Die russisch sprechende Kollegin wollte mich gar belehren, dass sie in ihrem 15jährigen Germanistikstudium (sie selbst war etwa Ende 30) gelernt hat, dass man im Deutschen kein „h“ spricht. Bsp. „E-he-partner“ Sie hat „Epartner“ vorgelesen. Mit entsprechendem Duden- Eintrag konnte ich sie schließlich davon überzeugen, dass man „h“ als Anfangslaut (Haus) oder am Silbenanfang (Ehepartner) immer ausspricht.
Ich könnte noch zur „Bildung“ in unserem Land noch mehr erzählen. Und aufgrund meiner Erfahrungen wundere ich mich nicht über die schlechten Bildungswerte in Deutsch. Zudem bezweifle ich sehr, dass Schüler, die den „offenen Ganztag“ besuchen, bessere Bildungsaussichten haben, solange man beim Betreuungspersonal spart und nicht auf eine entsprechende Qualifikation achtet. Letzteres ist auch ein großer Mangel in Kindergärten, die inzwischen mehr schnellausgebildete Kräfte (Koordinatoren, sozialpädagogische Fachkräfte, Leute ohne pädagogische Ausbildung. ) anstellen, wo nicht einmal mehr die Kindergartenleitung eine pädagogische Ausbildung besitzen muss. Geht man nachmittags in einen Kindergarten, Hort oder OGTS sieht man den Großteil der Betreuer nur – meist sogar mit Kaffeetasse – herumstehen und miteinanderquatschen. Als Begründung reden sie dann von “ Freispiel für Kinder“ sei wichtig, Beobachten sei wichtig. Es gibt fast kein „mit den Kindern spielen“. Kinder werden nur ständig ermahnt und gerügt, wenn sie sich nicht
entsprechend benehmen. Als ich mit Fußball spielte, im Sand Burgen baute, in der Nestschaukel die Kinder zu Phantasiegeschichten anregt habe oder mit ihnen einen Verkehrskreisel konstruiert habe und mich viele Eltern (die das beim Abholen des Kindes) beobachteten lobten, erhielt ich die Barsche Rügen „wir sind doch kein Bespaßungsverein!“ Vom Mangel an Anerkennung und Empathie der Erzieher, Betreuer, Fördelehrer den Kindern gegenüber könnte ich auch viel Beispiele aufzählen, die mich total schockiert haben – sowohl im Kindergarten als auch in der Schule.
Die Eltern sollten sich mehr dafür interessieren, wer ihre Kinder nachmittags oder auch in der Schule betreut.
Ich kann nur hoffen, dass mein Erfahrungsbericht endlich an eine Stelle im Bildungssektor gelangt, die hier einige Änderungen bewirkt und sich dafür engagiert.
Guten Tag Frau Kerling,
vielen Dank für Ihren ausführlichen Kommentar, in dem Sie viele Aspekte von missglückter oder zumindest halbherziger Hortbetreuung beschreiben. Es ist leider so, dass strukturelle Entscheidungen (etwa die gebundene Ganztagsschule) häufig nicht personell abgedeckt werden können, sondern hier Hilfsmaßnahmen, Stützen, Halblösungen greifen, die die Aufgabe nicht richtig und verantwortungsvoll erfüllen. Mehr Budget für Schulen, attraktivere Arbeitsbedingungen für Lehrer und pädagogisches Personal, Entlastung der Lehrkräfte und bessere Förderung der Kinder – hier müsste die Politik handeln.
Danke für Ihr Engagement in diesen für die Bildung herausfordernden Zeiten!
Kommen Sie bald wieder im Blog vorbei!
Viele Grüße
Ihr Team von Spielundlern.de