Die Einzugsschule: Das Problem hinter der Schulbezirksregelung

Jedes Jahr aufs Neue begleitet Eltern von 6- und 7-Jährigen die Frage, an welcher Schule sie ihr Kind einschulen sollen. Im ländlichen Raum gibt es häufig nicht genug Optionen, sodass die Schulwahl keine wirkliche Wahl ist.

Die meisten wahllosen Eltern gibt es aber wohl in Städten mit mehreren Schulen, die verzweifeltsten unter ihnen in Großstädten mit Brennpunktschulen. Der Grund für die Ratlosigkeit und Verzweiflung gelten nicht etwa den Fragen zum Schulmodell und Lernkonzept, sondern dem Zwang, dem die Eltern ausgesetzt werden – sie müssen ihr Kind auf eine vom Schulamt festgelegte Grundschule geben.

Zugespitzt ausgedrückt: die Zwangseinschulung Minderjähriger auf die sogenannte Einzugsschule.

Die Einzugsschule und was sie bedeutet

Die Schulbezirksregelung bzw. das Sprengelprinzip bedeutet, dass die Meldeadresse des Schulanfängers die Grundschule bestimmt. Die Schulpflichtigen werden automatisch derjenigen Grundschule zugewiesen, die in der Nähe ihres Wohnortes liegt.

Dieses in fast allen Bundesländern praktizierte Modell wird den Ländern als Option an die Hand gegeben und ist für sie nicht verpflichtend, es gibt zusätzlich die Möglichkeit der freien Schulwahl. Trotzdem entscheiden sich die meisten Regionen für dieses Modell. Nur in Nordrhein-Westfalen und Hamburg gibt es die Wahlfreiheit, Eltern können hier unter allen Grundschulen frei wählen. Die Wiedereinführung von Schulbezirken kommt aber auch dort immer wieder ins Gespräch.

Warum das Schulamt die Schule zur Einschulung vorgibt

Über das Modell der Schulwahl entscheiden die Bundesländer. Aber dürfen Sie die freie Schulwahl einschränken? Denn natürlich grenzt das Sprengelprinzip den freien Elternwillen ein. Doch dies ist verfassungsgemäß, wie das Bundesverfassungsgericht 2009 entschieden hat (AZ 1 BvQ 37/09).

Das Sprengelprinzip bzw. die Schulbezirksregelung dient vorrangig dem öffentlichen Interesse: Es sorgt aufgrund seiner einfach umzusetzenden Verteilungs-Formel dafür, dass alle öffentlichen Schulen gleichmäßig ausgelastet sind. Die Informationsseite der Abteilung Schule und Bildung des Landes Baden-Württemberg formuliert es so: „Die Schulbezirksregelung ist nötig, um einen effizienten Einsatz von vorhandenen Lehrkräften und eine gleichmäßige Auslastung vorhandener Schulräume zu gewährleisten sowie die bedarfsgerechte Einrichtung und Planung von neuen Schulen auf eine sichere Grundlage zu stellen.“

Diesem vorrangigen eher organisatorischen Zweck folgen einige weitere, die aus Elternsicht eher nachvollziehbar und relevant sind:

  1. Es besteht die Vorstellung, dass eine Schule und somit ihre Klassenverbände für ein gutes Lernklima und soziales Miteinander heterogen sein sollten. Sie sollten also im optimalen Fall Kinder aus unterschiedlichsten Bildungsschichten und verschiedensten kulturellen Hintergründen zusammenbringen. Man verspricht sich davon Synergiekräfte in der Sozialisation der Kinder und in ihrer Lernkompetenz.
  2. Die Schule soll den Durchmischungsgrad des Stadtteils wiederspiegeln, die Umgangsweise mit seinen Stadtteilnachbarn und Toleranz fördern.
  3. Eine homogene Schülerschaft (im Guten wie im Schlechten) soll vermieden werden, ebenfalls ist ohne die Vorgabe von Einzugsschulen die Gefahr da, dass Schulen „ausbluten“ und zu Brennpunktschulen werden, während anderen überlaufenen Lehranstalten wiederum die Kapazitäten ausgehen.
  4. Die Kinder sollen weiterhin in ihrem vertrauten Stadtteil lernen, dazu sollen die kürzeren Schulwege den jungen Schulanfänger die Möglichkeit geben, den Weg auch eigenständig zu Fuß oder mit Fahrrad zu bewältigen.
  5. Das Modell soll helfen, gewachsene Bindungen zu altersgleichen Kindern wie beispielsweise Kita-Freunden bis in die Grundschulzeit hinein zu erhalten.

All diese Gedanken sind gut und redlich: in der Theorie.

Kind läuft über den Gang einer Einzugsschule oder Wahlschule

Problemfeld Einzugsgebiet der Schule

In der Praxis bedarf dieses Konzept zur Entfaltung seiner positiven Zielsetzungen eine Ausgangslage, die in vielen Städten, vor allem in Großstädten, nicht gegeben ist. Es setzt voraus, dass die Stadtteile ebenfalls heterogen sind, dass die kulturelle Durchmischung ausbalanciert ist und ein gutes Gleichgewicht zwischen bildungsfernen und bildungsnahen Bevölkerungsschichten besteht. Dies ist mitnichten der Fall.

So befindet sich häufig die problematische Einzugsschule auch in einem eher problematischen Bezirk. Stadtteile mit sozialen Brennpunkten bringen folgerichtig Brennpunktschulen hervor.

So sorgt das Modell der Einschulung nach Einzugsgebiet statt für ausbalancierte Heterogenität ganz eindeutig für eine Ballung von sich gegenüberstehenden Brennpunkten und Eliten.

Mag dieses Konzept der Schulbezirksregelung dem Schulamt organisatorische Erleichterung bringen: die Ziele nach Toleranz und soziale Durchmischung bleiben weitgehend unerreicht.

Welche Optionen gibt es zur Einzugsschule?

Die Anmeldung von Erstklässlern an deren Einzugsschule ist also obligatorisch.

Gleichzeitig darf man sich im „Antrag zur Aufnahme eines Kindes in eine andere öffentliche Grund- oder Gemeinschaftsschule“ auf drei weitere öffentliche Schulen seiner Wahl bewerben. Hat man also doch die Freiheit, über die Schule seines Kindes zu bestimmen?

Für Berlin und andere Großstädte gesprochen: Eher nicht.

Möchte man die Einzugsschule für sein Kind aufgrund ihres prekären Status‘ nicht, so gelten aber diese Gründe nicht.

Die Argumentation, die das Schulamt für eine Umschreibung anerkennt, folgt nicht den Ängsten, die die Eltern umtreiben. Security am Schuleingang: Kein zureichender Grund. Stadtbekannte Mobbingprobleme an der Grundschule im Einzugsgebiet: Kein zureichender Grund. Marodes Gebäude, in denen der Hort eine Verwahranstalt ist: Kein zureichender Grund. Wohnt man einer solchen Schule genau gegenüber, so muss man sich mit vorgehaltenen Argumenten, behördlich korrekt quasi, herauswinden.

Sich dem Einzugsgebiet fügen oder lügen?

Gründe, die das Schulamt anerkennt und offen auf seiner Homepage kommuniziert, unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland – was der Schulbezirksregelung nicht gerade Glaubwürdigkeit verleiht. Mal sind es, wie in Berlin, an erster Stelle die gewachsenen Bindungen der Kinder, gefolgt von der Art des Schulkonzeptes und der Abholsituation, mal ist dies alles nicht erheblich und nur gesundheitliche Beeinträchtigungen ein zureichender Grund, wie in Baden-Württemberg.

Wer hier keine Punkte sammeln kann, der zieht um, wirklich oder nur so als ob. Wie erfinderisch Eltern werden können, wenn sie ihre Kinder in einer „Pflichtschule“ einschulen sollen, zeigte 2018 ein Artikel im Spiegel ausführlich auf.

So sehr man diesem Vorgehen der Betroffenen kritisch gegenüberstehen mag, so sehr muss man sich zeitgleich fragen: Darf es so etwas geben, eine – durch die Umstände – ja genaugenommen verpflichtende Einzugsschule, der man nur durch Trickserei entkommt?

Alternativen: Wahlschule oder Privatschule

Hat man auch diese Hürde genommen, die Motivation für seine Wunschschule auf welche Weise auch immer ausreichend zu begründen, dann folgt auch schon die Nächste auf dem Fuß: Die Wahlschule hat naturgemäß einen besseren Ruf, sie ist in Folge überlastet und muss somit häufig dem Schulanfänger eine Absage erteilen. Macht nichts, dann klagt man sich eben rein. Die Anwälte für Schulrecht haben alljährlich ab Spätsommer Hochkonjunktur.

Als letzter Ausweg dann also doch die Privatschule? Dass aufgrund der fehlenden Kompetenz und des maroden Zustands so mancher Grundschule oder der fehlenden Kapazität öffentlicher Schulen immer mehr Eltern als letzten Ausweg zu Privatschulen drängen, entschärft nicht gerade die soziale Schieflage zwischen den einzelnen Bezirken mancher Großstadt.

Doch auch bei diesem Weg wird notgedrungen ausgesiebt und alles Erfolg ist eine Frage des Geldes: Die Inanspruchnahme einer anwaltlichen Leistung kostet bis zu 3000 Euro, eine Privatschule noch wesentlich mehr.

Einzugsschulen: nur scheinbare Lösungen zu echten Problemen

Unter solchen Bedingungen können die verbindlichen Einzugsbereiche zu einer noch stärkeren Verschärfung des ohnehin spürbaren Ungleichgewichts zwischen manchen Stadtteilen führen – und zu unzufriedenen Eltern, die sich schließlich auf die Privatschulen retten. So entstehen trotz Sprengelprinzip und Einzugsbereiche spürbare Fluchtbewegungen einer homogenen gutverdienenden bildungsbürgerlichen Schicht hin zu besseren Stadtteilen und besseren Schulen.

Das Problem ist die Sichtweise: Gibt es gute Schulen in der Nachbarschaft, so wäre die Einzugsschule für viele Eltern gar nicht zu bemängeln. Die meisten Eltern wollen keine Eliteschulen für ihre Kinder, sondern sie steuern am häufigsten zuerst die bessere öffentliche Grundschule in ihrem Stadtteil an.

Gibt es eklatante Unterschiede zwischen den Schulen, so erfolgt die Abwanderung – gleich ob mit Sprengelprinzip oder offene Schulwahl.

Dies zeigen Unterschiede zwischen zweien benachbarten Städten gleicher Region. Während in Mühlheim an der Ruhr nach der Abschaffung der Sprengelpflicht ein soziales Auseinanderdriften der Stadtteile und eine Aus- oder Überlastung der Schulen beobachtet werden konnte (so der Diplomgeograf Thomas Groos von der Ruhr-Universität Bochum), fällt die Bilanz in Düsseldorf ganz unauffällig aus.

In einem Artikel der Süddeutschen Zeitung von 2016 kommt aus leitender Stelle des Schulverwaltungsamtes in Düsseldorf die Feststellung, dass nach dortiger Aufhebung der Schulbezirksregelung vor nahezu 8 Jahren, „nur wenige Eltern von der Möglichkeit Gebrauch gemacht haben, ihr Kind außerhalb der früheren Schulbezirksgrenzen anzumelden“. Im gleichen Artikel begrüßt auch die Lehrergewerkschaft Verband Bildung und Erziehung (VBE) diese Freiheit der Schulwahl, und zwar aus zwei nachvollziehbaren Gründen: Eine gestiegene Zufriedenheit der Eltern und die zunehmende Bemühung der Schulen, sich bei den Eltern über ihr Profil begehrt zu machen.

Verteilungsmechanismen ohne Nutzen für die Bildungslandschaft

Aufgrund dieser Beobachtungen wundert man sich nicht wenig über die großflächige Verbreitung des Modells der Einzugsschule. Vermutlich ist die Schulbezirksregelung bei den Bundesländern beliebt aufgrund seiner einfachen Verteilungsmechanismen.

An dem eigentlichen Problem geht das Sprengelprinzip aber vorbei: Dieses Modell wird nicht die soziale Schieflage einer Stadt zurechtrücken. Die Schulanfänger sollten nicht zuständig sein, jeder Schule mit problematischem Ruf einen besseren Abschlussbericht bei der nächsten Schulinspektion zu ermöglichen. Darf man Schulanfänger zu Versuchsteilnehmern sozialer Schulexperimente machen?

Die Schulbezirksregelung brüskiert Eltern, aber pflegt nicht die Bildungslandschaft gesund. Hierfür müssen andere Hebel greifen – die aber sind weitaus schwieriger umzusetzen, als das Sprengelprinzip, bedürfen einer umfangreichen Finanzierung und benötigen eine einflussreiche Lobby. Lieber die wirklichen Probleme an Brennpunktschulen anpacken und sich der Schullandschaft mit echten Lösungen widmen.

Sagt der Einzugsschule ade!

 

Liebe Leser, liebe Eltern von Schulanfängern, schreiben Sie uns in den Kommentaren, wie es in Ihrer Stadt mit der Schulplatzvergabe gehandhabt wird? Gibt es bei Ihnen Einzugsschulen oder die freie Schulwahl und wie finden Sie das?

 

Beitrag von Alice Linz, Redaktion SpielundLern.de

2 Kommentare zu “Die Einzugsschule: Das Problem hinter der Schulbezirksregelung”

  1. Ich wünschte mir, es gäbe das Sprengelprinzip in Falkensee. Es schafft Planungssicherheit und insgesamt trägt es vermutlich zu weniger Verkehrsbelastung bei.

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