Was bedeutet literarisches Lernen?
Literarisches Lernen beschreibt einen pädagogisch und textanalytisch fruchtbaren Umgang mit Literalität – der Welt der Buchstaben, Sätze und Geschichten, bis hin zur Analyse ihres Inhalts, der sprachlichen Mittel, der Protagonistenstruktur sowie der Einbindung in historische Zusammenhänge. Das literarische Lernen ist Gegenstand der didaktischen Leseforschung.
Es umfasst fiktive Literatur. Dabei eingeschlossen sind neben den schriftlich verfassten Texten auch textlose Bilderbücher und Bildergeschichten, sowie nichtschriftlich vermittelte Literatur wie beispielsweise Hörbücher. Dies ermöglicht das Anbahnen und die Anwendung literarischen Lernens bereits im Kleinkindalter, sodass es ein überaus wertvoller (jedoch häufig stiefmütterlich behandelter) Teil der frühkindlichen Pädagogik ist.
Welche Kompetenzen vermittelt das literarische Lernen?
Das literarische Lernen umfasst den Erwerb literaturbezogener Kompetenzen. Dazu gehören sowohl Leseförderung und Medienbildung in Kindergarten, Vorschule, Schule und Hort sowie die Förderung eines analytischen Umgangs mit literarischen Texten.
Dabei spielt die Textanalyse pädagogisch oder lebensweltlich wertvoller Bücher für Kinder und Jugendliche eine zentrale Rolle.
Das Ziel des literarischen Lernens
Ziel des literarischen Lernens ist es, die Kinder zu kompetenten Lesern zu machen. Durch die Kompetenzen, die das literarische Lernen den jungen Menschen eröffnet, erschließen sie sich eigenständig den Zugang zu Geschichten, zu Biographien sowie zu Erlebnissen, die die großen Fragen ihrer persönlichen oder der allgemeinen weltgeschichtlichen Entwicklung umreißen und ihnen wertvolle Antworten, kreative Perspektiven sowie praktische Lösungsansätze bieten.
Dabei geht die Lesekompetenz beim literarischen Lernen weit über jene aus der PISA-Studie, die vor allem das verstehende Lesen und die Lesefähigkeit als Technik betont.
Die Lernschritte
Einer der bekanntesten Theoretiker des literarischen Lernens, Kaspar H. Spinner, umschreibt mit dem literarischen Lernen das „genaue und vertiefende Verstehen literarischer Ausdrucksweisen“. Dieses folgt analog der kindlichen Entwicklung. Dabei lernen die Schüler zu abstrahieren, sich in Texten hineinfühlen, die Textstruktur und die Interaktion der Protagonisten erkennen und deuten sowie eine eigene Meinung zum Text und seinen formalen und inhaltlichen Elementen zu entwickeln.
Die frühe Welt der Literalität
Die Welt der kurzen Verse, der Wortspiele, der gereimten Merksätze, der kurzen Märchen und Fabeln fängt bereits in jungen Jahren ab anderthalb oder 2 Jahren an, also noch vor der Alphabetisierung. Durch das Vorlesen und der Betrachtung der meist begleitenden Illustrationen entsteht ein erstes Verständnis vom Handlungskontext und Handlungsablauf.
Dabei stellen Bilderbücher und Hörbücher meist die ersten Schritte in die literarische Welt der Fiktion dar.
Die Multiebenen des literarischen Lernens
Sobald die Kinder lesen lernen, erkennen Sie die Geschichten zuerst als aus Buchstaben gewobenen „Fäden“. Sie erwerben zuerst die technische Lesekompetenz und lernen, den reinen Textinhalt zu verstehen.
Im Laufe der Grundschule erweitert sich der Verständnishorizont. Durch erste Textanalysen, Textbesprechungen und Fragestellungen wird offensichtlich, dass eine literarische Erzählung oder Roman, eine Biographie oder Ratgeberliteratur nicht bloß aus einer eindimensionalen Geschichte besteht.
So kommt es, dass die Dechiffrierung literarischer Werke nun nicht mehr nur eine Entzifferung der einzelnen Sätze bedeutet, sondern sie bekommt dadurch erstmalig eine (mindestens) zweite Ebene: namentlich die der subjektiven Bedeutung, die im Lesenden entsteht.
Erst durch das gemeinsame Gespräch und die Textanalyse im Unterricht wird häufig offenkundig, wie unterschiedlich und subjektiv verschiedene Bedeutungsebenen erkannt oder eben verkannt werden können.
Die Eroberung der Metaebene
Die Metaebene bedeutete bei der Textanalyse – sehr vereinfacht ausgedrückt – einen „allwissenden“ Überblick über die unterschiedlichen Bedeutungsebenen, dem Kontext der Entstehung des Textes, geschichtlicher Zusammenhänge und Beeinflussungen und der wichtigsten Rezeptionen im Lauf der Zeit. Diese Ebene erlernen die Schüler in den Grundzügen am Ende der Grundschulzeit. Sie werden in der Oberstufe vertieft.
Dazu gesellen sich Kenntnisse zur Textart, zum formalen Textaufbau, zu stilistischen Mitteln. Die Oberschüler erkennen durch das literarische Lernen Subtexte und Anspielungen, Zeitdeformationen, wie beispielsweise Zeitsprünge, Zeitraffer, Zeitlupe oder Rückblenden.
Die Kinder und Jugendliche können nun selbst Textarbeit leisten: Sie sind beispielsweise in der Lage, Variationen ein und derselben Geschichte kreativ zu verfassen oder alte klassische Geschichten in die Neuzeit zu transportieren.
Die Aspekte literarischen Lernens
Es gibt viele unterschiedliche Gesichtspunkte, unter denen Texte betrachtet, analysiert und besprochen werden können.
Diese sind Folgende:
- Analyse der Räume und Orte: Welche Bedeutung haben sie für die Geschichte und für die Protagonisten?
- Betrachtung der sprachlichen Elemente: Welche Symbole, Metaphern sowie andere sprachliche Mittel kommen vor? Reime und Verse werden laut vorgetragen und die Lautstärke und das Sprachbild angeschaut
- Protagonistenanalyse: das Äußere, die Charaktereigenschaften, das Handeln und die Beziehungen untereinander werden betrachtet
- Subjektive Involviertheit beachten: dazu sollten die Schüler Fragen nach eigenen gleichen oder widersprüchlichen Erfahrungen zulassen und thematisieren, damit einhergehend ihren Bezug zur Hauptperson oder dem Antagonisten prüfen
- Narrative Handlungslogik darlegen: Die meisten Erzählungen sind nicht linear, sondern es gibt Zeitsprünge durch Rückblenden oder Zeitraffer, sowie möglicherweise auch ein Wechsel der Erzählerperspektive. Dazu kann es eine Rahmen- und Binnenerzählung geben, die wiederum auf die Dynamik der Geschichte großen Einfluss haben.
- Fiktionalität aufschlüsseln: Die meisten fiktionalen Texte arbeiten mit realen Elementen. Diese befinden sich entweder in einem surrealen, erfundenen Umfeld oder sie tauchen mitten in der als real empfundenen Welt auf. Dies ist für junge Kinder schwer auseinander zu halten, da sie Erfundenes und Reales häufig vermischen.
- Symbol- und Bildhaftigkeit: Kinder nehmen viele Symbole oder Versinnbildlichungen wörtlich. Es geht mit dem literarischen Lernen einher, dies mit der Zeit zu erkennen.
- Gattungen erkennen: Da literarische Gattungen häufig vage sind, liegt es an der Lehrkraft, eindeutige Beispiele zu wählen, damit die Kinder klare Vorbilder haben.
- Literaturhistorisches Bewusstsein wecken: Dies ist in mehrerlei Hinsicht sinnvoll: Einerseits erklärt ein solcher Zugang häufig die Verwendung bestimmter Wörter, andererseits arbeitet neue Kinderliteratur nicht selten mit Verweisen auf Kinderklassiker, so beispielsweise Paul Maars „Schiefe Märchen und schräge Geschichten“, das sich auf die Grimmschen Märchen bezieht. Aber auch beim Konsum neuerer Kinderkinofilme tragen Verweise auf andere Filme oder Bücher zum großen Teil zum ironischen Gehalt solcher Geschichten bei.
Materialien und Unterrichtsideen
Textdatenbank für Impulse zur neuesten Kinderliteratur
Eine große Datenbank der AJuM (Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien) der GEW bietet für ErzieherInnen und LehrerInnen über 20.000 aktuelle Buchbesprechungen, die jünger als 3 Jahre sind, sowie weitere Tausende älteren Datums. Rund 500 Literaturkenner, BibliothekarInnen und Fachkräfte aus Kita und Schule verfassen regelmäßig diese Rezensionen und stellen sie frei zur Verfügung.
Dabei liegt der Schwerpunkt – ganz anders als in den meisten Lehrplänen – auf neuere, statt klassischer Kinder- und Jugendliteratur. Dies ist ein gute Möglichkeit, den Kindern Bücher ihrer Zeit pädagogisch und im Sinne des literarischen Lernens näherzubringen.
Lesekiste
Die Lesekiste wurde 1998 von Jörg Knobloch und anderen Lehrern als Material für das literarische Lernen in Bayern entwickelt und hat sich bereits in vielen Schulen bewährt.
Zum Einsatz kommt eine Box in etwa in der Größe eines Schuhkartons. Während des Leseprozesses wird der Karton passend zum Buch außen und innen gestaltet. Er wird mit Gegenständen, die zum Inhalt, dem Thema, der Art des Buchtextes passen, gefüllt.
Die Arbeit an der Lesekiste erfolgt in Einzel- oder Gruppenarbeit, alle Beteiligten sollen aktiv daran mitwirken.
Dieser Prozess rund um die Lesekiste dient:
- der Antizipation der Texte,
- der Motivation zur Auseinandersetzung sowie
- der Konkretisierung seiner Elemente und
- ist zusätzlich Anlass gebend für weiterführende Gespräche.
Des Weiteren
- involviert er auch Schüler mit weniger Lesekompetenz
- aktiviert die gesamte Gruppe und
- erleichtert den literarischen Verstehensprozess.
Bildquellen
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- Pexels @ Anna Shvets
Quellen
- Spinner, K. H.: Literarisches Lernen. Quelle, In: Praxis Deutsch, 33 (2006) 200, S. 6-16.
- Dahrendorf, Malte: Überlegungen zur immanenten Didaktik und Pädagogik der Kinder- und Jugendliteratur. In: Richter, K.; B. Hurrelmann (Hrsg.): Kinderliteratur im Unterricht. 2. Auflage, München: 2004.
- https://www.pedocs.de/volltexte/2021/21684/pdf/Didaktik_Deutsch_2019_46_Ritter_Literarisches_Lernen_in_der_Grundschule.pdf
- https://www.kinderundjugendmedien.de/index.php/fachdidaktik/153-unterrichtskonzepte-und-methoden/2646-literarisches-lernen-mit-kinder-und-jugendliteratur
- https://www.kinderundjugendmedien.de/images/fachlexikon/fachdidaktik/pdf/literarischeslernen.pdf
- https://xn--leserume-4za.de/wp-content/uploads/2015/10/lr-2015-1-maiwald.pdf
- https://www.gew.de/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=29095&token=bdb2e61379485b02eb4d44155372f4969eae4ae1&sdownload=
- www.ajum.de
- https://lehrerfortbildung-bw.de/u_sprachlit/deutsch/gym/bp2004/fb2/02_klein/04_ue/02_lit_lern
- https://www.grin.com/document/341189
Ein Kommentar zu “Das literarische Lernen in der Grundschule – wie die Schüler profitieren!”
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