Das Aufmerksamkeitsdefizit-(Hyperaktivitäts-)Syndrom ist bei Kindern und Jugendlichen, aber auch bei Erwachsenen weit verbreitet. Zur Diagnose und Behandlung gibt es nationale Leitlinien, zum Beispiel die britische NICE-Leitlinie oder die deutsche S3-Leitlinie. Beide wurden vor kurzem überarbeitet. Wir haben für Sie den ESCAP Kongress der Europäischen Jugendpsychiater in Wien Anfang Juli 2019 besucht und mit den Herausgebern der Leitlinien zu dem aktuellen Forschungsstand und Empfehlungen zu ADHS gesprochen.
ADHS Leitlinien ermöglichen eine ordnungsgemäße und erprobte Behandlung
Die aktuelle Fassung der deutschen S3-Leitlinie zu ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen stellt den Konsens aller maßgeblichen deutschen Fachgesellschaften und Experten zum Thema ADHS dar. Sie wurde zuletzt 2017 überarbeitet. Die entsprechende britische Leitlinie des „National Institute for Health and Care Excellence“ (NICE) zu ADHS wurde 2018 neu herausgegeben.
ADHS ist eine kindliche Entwicklungsstörung und zieht sich durch das ganze Kinder-und Jugendalter. Die Störung ist zum Teil mit anderen psychischen Erkrankungen bzw. Entwicklungsdefiziten verbunden. Ausdrucksformen der Störung und die beste Behandlung von ADHS wechseln mit dem Alter des Kindes. Bei der Fülle an möglichen Behandlungsformen profitieren Betroffene sehr von einer ordnungsgemäßen und gut erprobten, d.h. an den Leitlinien orientierten Behandlung.
ADHS Diagnose frühestens im Vorschulalter stellen
Ausgeprägte Formen von ADHS können sich zwar schon ab dem 3. Lebensjahr zeigen, aber eine Diagnose soll frühestens im Vorschulalter gestellt werden. Unruhe und schnell wechselnde Aufmerksamkeit stehen im Vordergrund, sowohl in der (Vor-)Schule als auch zuhause. In der Schule kommen dann, sobald längere Aufmerksamkeit gefordert wird, Lernschwierigkeiten hinzu, was zu Störungen im Selbstwertgefühl der Kinder führt.
Je älter die Kinder werden, desto mehr zeigen sich auch soziale Schwierigkeiten, Suchtmittelmissbrauch, Unfallhäufigkeit und generell riskantes Verhalten. Die Betroffenen können ihre Störung meistens selbst gut beschreiben und einschätzen, aber bei der Diagnose werden Beobachtungen der Familie und aus der Schule einbezogen.
Auch wenn die genetischen Mechanismen nicht klar sind, scheint ADHS vererblich zu sein, etwa die Hälfte der Eltern mit ADHS hat mindestens ein Kind mit dieser Diagnose.
Beim Erwachsenen wird die Hyperaktivität weniger, doch Aufmerksamkeitsdefizite in Form von rasch wechselnden Interessen und der Notwendigkeit regelmäßiger Stimulation bleiben bei sehr vielen ADHS-Betroffenen bestehen. Dies sollte bei der Berufswahl berücksichtigt werden, um berufliche Schwierigkeiten möglichst zu vermeiden.
Leitlinien für eine geeignete ADHS Therapie
Was ist die geeignete Therapie für ADHS? Bei kleinen Kindern und leichten Störungen reicht nach der deutschen Leitlinie eine psychosoziale Beratung und Behandlung. Die Diagnose von ADHS im Vorschulalter ist schwierig, und bei manchen Kindern lösen sich die Symptome rechtzeitig wieder auf. Bei Kindern unter 6 Jahren sind Trainings für Eltern, Anpassungen im Umfeld und Achtsamkeitsübungen gut geeignet, eine medikamentöse Therapie wird für Kinder unter 3 Jahren gar nicht und unter 6 Jahren zumindest in Deutschland nur in schweren Fällen empfohlen.
Ab dem 6. Lebensjahr wird eine medikamentöse ADHS-Behandlung empfohlen
Ab dem 6. Lebensjahr sollen ausgeprägte ADHS-Störungen entsprechend der Leitlinien mit einem Medikament behandelt werden. Dies gilt schon länger für Großbritannien, und seit 2018 wird eine Pharmakotherapie auch in Deutschland bereits bei moderaten Symptomen empfohlen. Mittel der Wahl sind die Stimulantien, also Methylphenidat (Markennamen Ritalin und Medikinet) und Amphetamine. Diese Medikamente wirken bei ADHS sehr zuverlässig, ihre sogenannte „Effektstärke“ ist besser als die vieler Medikamente bei anderen körperlichen und psychischen Erkrankungen.
Eltern, Lehrer, Freunde und Betroffene können oftmals am direkt am Verhalten und der Lernbereitschaft erkennen, ob an dem betreffenden Tag das Medikament eingenommen wurde oder nicht, so unmittelbar hängen die Symptome der Störung und ihre Behandlung zusammen. Allerdings wirken die verschiedenen Stimulantien nicht bei jedem Kind gleich, manchmal müssen verschiedene Mittel erprobt werden. Diagnostik und Behandlung der ADHS erfolgen üblicherweise ambulant, eine stationäre Aufnahme ist wegen ADHS in der Regel nicht notwendig.
ADHS Behandlung und Aufputschmittel – ein Widerspruch?
Eigentlich erscheint es zunächst paradox, dass eine Hyperaktivität, auf Deutsch Überdrehtheit, mit einem Aufputschmittel behandelt wird. Doch das äußere Verhalten entspricht nicht der inneren Verfassung im Gehirn. So wie ein übermüdetes Kind, das nicht in den Schlaf finden kann, oftmals aufdreht und hyperaktiv wird, aber dann nach einer Schlafphase wieder ruhig und aufmerksam ist, so wird das Kind mit ADHS durch eine medikamentöse Stimulation des Gehirns ruhig und lernbereit.
Die Mittel wirken also beim ADHS-Patienten gänzlich anders als beim „Gesunden“, bei dem die Stimulanzien genau das Verhalten bewirken würden, was sie beim ADHS-Patienten behandeln.
Wegen der Missbrauchgefahr des Ritalins und Amphetamins durch Nicht-ADHS-Menschen als Aufputschmittel und Partydroge unterliegen sie dem Betäubungsmittelgesetz. Sie dürfen nur von bestimmten Ärzten auf gesonderten Rezeptformularen verschrieben werden. Aber beim ADHS-Patienten haben sie keine Suchtgefahr, diese Patienten können jederzeit die Einnahme stoppen.
Geringe Nebenwirkungen durch die langfristige Einnahme von Stimulanzien
Auch die Nebenwirkungen einer langfristigen Einnahme von Stimulanzien bei ADHS sind gering. Große Studien wie die internationale ADDUCE Study haben keine ernsthaften langfristigen Nebenwirkungen gezeigt. Ein leichter Gewichtsverlust und etwas beschleunigter Herzschlag sind möglich. Doch die Gefahr von Unfällen, Rechtsverstößen und Selbsttötungen ist unter einer Therapie so viel geringer als ohne Behandlung, dass dies die leichten Nebenwirkungen mehr als ausgleicht.
Begleitende Maßnahmen zur medikamentösen Behandlung
Sinnvoll begleitet wird eine medikamentöse Behandlung mit weiterer Behandlungsansätzen. Dies können neben einer Verhaltenstherapie auch Maßnahmen aus den Bereichen Ernährung, Achtsamkeitstraining, Neurofeedback, Verhaltenstherapie, Sport u.s.w. sein. Diese Maßnahmen werden von den Betroffenen und ihrem Umfeld als sinnvoll und mit positiven Effekten erlebt, aber sie können in eindeutigen ADHS Fällen nach übereinstimmender Fachmeinung in den Leitlinien nicht eine medikamentöse Behandlung ersetzen.
Wichtig ist auch die sogenannte Psychoedukation, also Aufklärung und Beratung der Betroffenen und ihrer Bezugspersonen zum Störungsbild und seinen Ursachen sowie zum Verlauf und den Behandlungsmöglichkeiten. Dies hilft ihnen, bewusste Entscheidungen zur Behandlung zu treffen und ärztliche und psychotherapeutische Empfehlungen verständig zu bewerten.
Die medikamentöse Behandlung von Erwachsenen mit ADHS Symptomen
Beim Erwachsenen ist eine medikamentöse Behandlung oft nicht mehr notwendig, trotzdem bleibt das ADHS im Hintergrund bestehen. Die Betroffenen haben es gelernt, mit ihrer Störung zu leben. Aber sie müssen sich insbesondere bei eintönigen Tätigkeiten besonders anstrengen und profitieren daher von Berufen, die mit viel Abwechslung und Bewegung verbunden sind (z.B. im Handwerk). In vielen Fällen sind sie leistungsfähiger, wenn sie weiterhin medikamentös behandelt werden.
Ausgewogene Ernährung und regelmäßige Bewegung bzw. Sport haben bei erwachsenen Betroffenen wie auch bei den Kindern einen positiven Einfluss auf die ADHS Symptome. Zusätzlich scheint ein Mindfulness (Achtsamkeits-)Training eine gute Wirksamkeit im Vergleich zu einer Kontrollgruppe zu haben.
Gastbeitrag von Dr. Christian Gravert
Die Datenschutzbestimmungen habe ich zur Kenntnis genommen.