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Natali Mallek
Natali Mallek ist Sozialpädagogin, zertifizierte Gedächtnistrainerin und hat einen Masterabschluss im Studiengang „Alternde Gesellschaften“. Sie ist Gründerin der Internetplattform: mal-alt-werden.de

Sie bringt langjährige Praxiserfahrung in der Seniorenarbeit mit, insbesondere in der Begleitung von Menschen mit Demenz. Sie hat zahlreiche Fachbücher zu Themen wie Aktivierung, Biografiearbeit und Alltagsgestaltung veröffentlicht. Ihr besonderes Anliegen ist es, mit einfachen Mitteln echte Begegnungen zu schaffen.
Grundlagen
Welche besonderen Vorteile bieten Geschichten für Senioren und Fantasiereisen, insbesondere im Kontext eines Seniorenheims?
Geschichten für Senioren und Fantasiereisen bieten eine schöne Möglichkeit, kurze Phasen der Entspannung in den Alltag von Seniorinnen und Senioren zu integrieren. Gerade im Heimalltag, der oft durch feste Abläufe geprägt ist, kann so eine kleine Auszeit sehr wohltuend sein. Wichtig ist dabei immer: Es muss den Menschen Freude machen. Was dem einen gefällt, ist für den anderen vielleicht nichts und genau das ist völlig in Ordnung. Manche genießen Fantasiereisen als kleine Entspannung zwischendurch, andere schätzen sie als kreativen Teil einer Gruppenstunde. Besonders gut lassen sie sich thematisch gestalten und auf bestimmte Interessen oder Jahreszeiten abstimmen. Anders als intensives autogenes Training, das für manche Menschen mit Demenz oder psychischen Erkrankungen schwierig sein kann, sind Fantasiereisen meist niedrigschwelliger und sanfter.
Wie können Geschichten für Senioren gezielt eingesetzt werden, um kognitive Fähigkeiten, Erinnerungen oder emotionale Ressourcen der Bewohner zu aktivieren?
Ich bin mir gar nicht sicher, ob man Fantasiereisen vorrangig unter dem Aspekt der kognitiven Förderung betrachten sollte. Vielmehr geht es darum, Anknüpfungspunkte zu schaffen: An die Lebenswelt der Seniorinnen und Senioren, an Erinnerungen und vertraute Erfahrungen. Gerade biografisch bekannte oder jahreszeitlich passende Themen bieten hier eine gute Möglichkeit. Sie stimmen emotional ein und holen die Menschen da ab, wo sie sind. Es geht nicht um Leistung, sondern um das, was noch da ist, um die Ressourcen, die die Menschen mitbringen. Wenn ich zum Beispiel in einer Fantasiereise den Duft von frischem Kaffee beschreibe, dann weckt das bei vielen sofort Bilder, Erinnerungen oder ein wohliges Gefühl. Genau solche Momente machen Fantasiereisen wertvoll.

Einsatz der Geschichten für Senioren
Gibt es bestimmte Erzähltechniken oder Methoden, die besonders gut für ältere Menschen mit Demenz oder eingeschränkter Aufmerksamkeit geeignet sind?
Ganz wichtig sind einfache, klare Sätze. Keine komplizierten Bilder, sondern kurze, leicht verständliche Impulse. Es reicht völlig, von einer Wiese im Sonnenschein zu erzählen. Das Bild, das daraus im Kopf entsteht, darf jeder für sich selbst gestalten. Es geht nicht darum, etwas zu erzwingen oder eine bestimmte Vorstellung zu vermitteln. Auch die Tiefe einer Fantasiereise muss nicht künstlich herbeigeführt werden. Wer dabei die Augen schließen mag, kann das tun. Wer lieber einfach nur zuhört, ist genauso willkommen. Das Wichtigste ist: Es soll gut tun. Wer sich darauf einlässt, ist dabei. Wer einfach nur zuhört, nimmt die Geschichte eben auf seine eigene Weise mit. Es geht nicht um Erwartungen, sondern um kleine Impulse, die den Menschen guttun. Das darf ganz individuell sein.

Fotoduett, Rate- und Zuordnungsspiel für Senioren zur Erinnerung und Biographiearbeit

Alltagsgegenstände Fotokarten

Ein Koffer voller Erinnerungen, 52 Geschichten zum Vorlesen bei Demenz
Wie können Geschichten für Senioren in Gruppenstunden oder Einzelbetreuungen sinnvoll integriert werden, und welche Rahmenbedingungen sollten beachtet werden?
Das A und O ist erst einmal Ruhe. Und das klingt einfacher, als es in der Praxis oft ist. Viele Gruppenangebote finden beispielsweise in Wohnküchen statt. Wenn dann parallel die Spülmaschine ausgeräumt wird oder jemand hereinkommt, ist das störend. Eine möglichst ungestörte Umgebung ist deshalb wichtig, um überhaupt in die Ruhe und Entspannung einer Fantasiereise zu finden. Ebenso sollte man darauf achten, nicht direkt aus einer sehr lebhaften oder bewegungsintensiven Aktivität in die Fantasiereise zu springen. Eine sanfte Hinführung hilft den Teilnehmenden, innerlich mitzugehen. Auch ganz praktische Dinge sind entscheidend: Die Stühle sollten bequem sein und jeder sollte gut und entspannt sitzen können. Denn nur wer sich wohlfühlt, kann sich auch einlassen.

Welche Herausforderungen gibt es bei der Durchführung von Geschichten für Senioren im Seniorenheim, und wie können Betreuende darauf reagieren?
Eine der größten Herausforderungen ist tatsächlich, überhaupt einen ruhigen Raum zu finden. Aber auch innerhalb der Gruppe können Schwierigkeiten entstehen. Zum Beispiel, wenn jemand dabei ist, der laut ruft, ständig aufsteht oder sich anders äußert. Das ist im jeweiligen Kontext oft völlig nachvollziehbar und gehört zu dem Menschen dazu. Dennoch kann es andere Teilnehmende aus der Ruhe bringen oder stören. Hier ist es wichtig, sensibel abzuwägen: Einerseits mit Verständnis auf die Bedürfnisse des Einzelnen einzugehen, andererseits auch die Gruppe im Blick zu behalten. Manchmal hilft es, kleinere Gruppen zu bilden oder ruhigere Teilnehmende gezielt auszuwählen. Und generell gilt: Flexibilität und Gelassenheit sind bei Fantasiereisen genauso wichtig wie bei allen anderen Angeboten in der Seniorenarbeit.
Themen und Motive
Welche Themen oder Motive sprechen Senioren besonders an, und wie unterscheiden sie sich von den Interessen jüngerer Menschen?
Wenn ich mit Kindern arbeite, darf eine Fantasiereise ruhig mal in den Dschungel oder ins Weltall führen. Da ist das Erschaffen neuer Welten oft genau das Richtige. Bei Seniorinnen und Senioren ist das anders. Natürlich sind auch sie sehr unterschiedlich – das möchte ich ausdrücklich betonen. Eine fitte Seniorengruppe kann sich durchaus auch mal auf ein fantasievolles, ungewöhnliches Thema einlassen. Aber in der typischen Heimsituation, wo viele Menschen leben, die schon erste Anzeichen von Demenz zeigen, sind andere Themen oft passender. Hier geht es um das Vertraute, um Biografisches, um Jahreszeitliches. Das Gefühl von Sicherheit und Wohlbefinden steht im Vordergrund. Bekannte Bilder helfen eine Verbindung herzustellen, ohne zu überfordern.

Welche Rolle spielen multisensorische Elemente (z. B. Musik, Düfte oder haptische Reize) bei Fantasiereisen für Senioren?
Multisensorische Elemente können eine Fantasiereise durchaus bereichern, müssen mit Bedacht eingesetzt werden. Haptische Reize zum Beispiel verwende ich bei klassischen Fantasiereisen eher nicht. Düfte können stimmungsfördernd sein, sind in der Praxis aber schwierig umzusetzen. Was der eine angenehm findet, empfindet der andere als unangenehm. Da muss man sehr genau hinsehen. Eine leichte, entspannende Hintergrundmusik kann eine schöne Atmosphäre schaffen. Aber auch hier gilt: Nicht jeder verträgt Musik gut. Viele ältere Menschen haben eine Hörbeeinträchtigung, und Musik im Hintergrund kann dann schnell als störend empfunden werden oder das Verstehen der Geschichte erschweren. Grundsätzlich gilt also: Sinneseindrücke nur dann einsetzen, wenn sie wirklich gut in die Situation passen und den Teilnehmenden guttun.
Tipps
Wie können Pflege- und Betreuungskräfte ohne besondere Vorerfahrung eigene Fantasiereisen entwickeln und erfolgreich in den Alltag integrieren?
Mein wichtigster Tipp: Weniger ist mehr. Es braucht keine ausgefeilten Texte oder großen Fantasiewelten. Viel wichtiger ist es, bei den einfachen Dingen zu bleiben und sich Zeit zu lassen. Langsam sprechen, Pausen machen, und vor allem: eine Alltagssituation wählen, die jeder kennt und mit etwas Positivem verbindet. Das kann
- ein Frühlingstag sein,
- der Duft von Kaffee am Morgen,
- eine Tasse Tee,
- ein gemütlicher Winterabend im Wohnzimmer oder
- das Gefühl, sich in eine warme Decke einzukuscheln.
Solche kleinen, vertrauten Bilder wirken oft viel stärker als jede aufwendig erdachte Geschichte. Und genau damit lässt sich eine Fantasiereise ganz leicht in den Alltag integrieren – ohne Druck und mit viel Wirkung.
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Welche Tipps haben Sie für Fachkräfte, um mit Fantasiereisen eine stärkere emotionale Verbindung zu den Seniorinnen und Senioren aufzubauen?
Fantasiereisen sind ein mögliches Element unter vielen in der Betreuungsarbeit. Alles, was wir tun: Ein Spiel, ein Rätsel, eine Biografiekarte, ein Arbeitsblatt oder eben eine Fantasiereise ist letztlich nur eine Brücke. Eine Brücke von Mensch zu Mensch. Denn im Zentrum steht immer die Beziehungsarbeit. Ziel ist eine echte Verbindung, eine Begegnung auf Augenhöhe. Wenn diese Verbindung durch eine Fantasiereise entsteht ist das wunderbar. Wenn sie sich bei einem Spaziergang, im Gespräch oder beim gemeinsamen Lachen entwickelt ist das genauso gut. Es geht nicht darum, was man nutzt, sondern wie man es nutzt. Es geht darum, mit welcher Haltung man den Menschen begegnet.

Haben Sie aus Ihrer praktischen Arbeit eine besonders eindrucksvolle Erfahrung oder eine bewegende Reaktion eines Bewohners auf eine Geschichte für Senioren, die Sie teilen möchten?
Mir fällt gar nicht eine bestimmte Szene ein, sondern eher ein allgemeines Gefühl. Es ist immer wieder schön, wenn man während einer Fantasiereise merkt, wie der ganze Raum zur Ruhe kommt. Wenn die Atmung der Teilnehmenden ruhiger wird, wenn die Anspannung langsam weicht. In solchen Momenten spürt man, dass sich etwas löst. Man nimmt förmlich wahr, wie die Aufgeregtheit und der Alltagsstress den Raum verlassen. Das sind stille, aber sehr berührende Momente.
Bildquellen
- KI-generiertes Bild
- Pexels @ Olly
- Pixabay @ Gerd Altmann
- Pexels @ Italo Melo
- Pexels @ Matthias Zomer
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